24 Stunden
für den guten Zweck
Einmal im
Jahr treffen sich in Villars am Genfersee Wintersportler zu der von Jacques
Villeneuve ins Leben gerufenen Formula Charity, einem Abfahrtsrennen rund
um die Uhr, bei dem es darum geht, in 24 Stunden möglichst viele
Pistenkilometer und damit Schweizer Franken für kranke oder notleidende
Kinder zu sammeln.
Eine Januarnacht
in den Waadtländer Alpen. Es ist stockdunkel und so kalt, dass bei
jedem Atemzug der Frost in den Nasenflügeln sticht. Man sollte sich
daheim verkriechen bei einem dampfenden Käsefondue oder am knisternden
Kamin. Doch die Leute in Villars-sur-Ollon zieht es hinaus, hinauf aufs
1806 Meter hoch gelegene Bretaye, das sich mit seinen Alphütten aus
dunklem Holz und ein paar Berggasthäusern in eine kleine Mulde zwischen
den Bergflanken schmiegt und Endstation ist für das feuerwehrrote
Bähnli, für das in dieser Nacht kein Fahrplanende vorgesehen
ist. Manche haben Zelte dabei, Isomatten und Schlafsäcke. Alle sind
sie so dick eingemummelt, dass sie sich nur schwerfällig bewegen
unter so vielen Lagen Fleece, Daune oder Pelz.
Hoch über dem Genfersee herrscht Ausnahmezustand. Fast tausend Skifahrer,
Telemarker, Snowboarder und Paralympics sind zum Formula Charity angetreten,
einem 24-Stunden-Rennen, bei dem es darum geht, möglichst viele Kilometer
zu fahren. Und das nicht etwa aus purer Rekordsucht. Jeder zurückgelegte
Kilometer bringt einen Schweizer Franken in die Kasse eines wohltätigen
Zwecks. Jetzt, in der Nacht, steht die Digitalanzeige, deren gelbe Lettern
unermüdlich weiterzählen, bei etwa 20.000. Ziel ist es, die
imaginäre Umrundung der Weltkugel zu schaffen. Mit der moralischen
Unterstützung so vieler Zuschauer müsste das doch zu machen
sein.
Jacques Villeneuve jedenfalls ist zuversichtlich. Auch wenn er einen ziemlich
mitgenommenen Eindruck macht. Seit Tagen plagt den Formel-Eins-Weltmeister
von 1997 eine fiebrige Erkältung, die ihn zu sportlicher Zurückhaltung
zwingt. Nur stundenweise geht der leidenschaftliche Skifahrer selbst auf
die Piste und fiebert sonst mit glasigen Augen am Streckenrand mit seinem
und den anderen Teams. Er, der ehemalige Schüler in einem der zahlreichen
renommierten Internate von Villars war es, der im Herbst 1998 zusammen
mit seinem Ex-Lehrer Craig Pollock und dessen Frau Barbara die Idee zu
Formula Charity hatte. Ein Rennen für Mannschaften von vier bis sechs
Personen, die 24 Stunden auf der Piste sind. Promis und No-Names, Kinder
und Großeltern, Skifahrer und Paralympics, Snowboarder, Telemarker
und ein paar rasante Athleten auf Snowbikes und ähnlichen Spaßgeräten;
einzige Voraussetzung, sie brauchen einen Sponsor, der garantiert, dass
für jeden gefahrenen Kilometer des Teams ein Schweizer Fränkli
in die Kasse kommt. Ob das die Oma, das Gasthaus im Ort oder ein Weltkonzern
zahlt, spielt keine Rolle. Zur organisatorischen Unterstützung fanden
sie schnell engagierte, freiwillige Helfer. Knapp 150 sind es jedes Jahr,
die ehrenamtlich zum Gelingen beitragen. Alle anfallenden Kosten übernehmen
Villeneuve und Pollock, die in Damon Hill einen begeisterten Mitstreiter
finden, der im Nu von der Idee überzeugt ist und selbst auf Ski schon
manchen Kilometer für die gute Sache zurücklegte.
So kam es 1999 zum ersten Rennen, an dem immerhin 120 Teams mit 615 Fahrern
24.383 Kilometer auf den beiden Pisten am Grand Chamossaire und Chaux
Ronde durch die Tore des Riesentorlaufs flitzten und zusammen mit Spendengeldern
stattliche 100.000 Franken für das Schweizer Paraplegic Center in
Nottwil sammelten. Schon damals war das Rennen mehr als nur ein Rennen,
sondern vielmehr eine 24-stündige Party mit namhaften DJs und angesagten
Bands, die sich in den Dienst der guten Sache stellten und Fahrern wie
Publikum vor allem in den langen Nachtstunden das wach bleiben erleichterten.
Denn auch wenn sie stundenweise in ihre Zelte gleich neben dem Ziel kriechen,
zehrt das beständige Fahren doch an Kraft und Konzentration. Immerhin
sind es mittlerweile gut zwölf Stunden, seit dem Le-Mans-Start am
Samstagmittag. So manchem fallen die paar Meter zwischen Wechselzone und
Zeltlager sichtlich schwer, während andere in der 17 Grad kalten
Nachtluft offensichtlich zu neuen Kräften kommen. „Besonders
motivieren die vielen Menschen, die einen an der Strecke anfeuern und
Mut machen, da kann man doch gar nicht müde werden“, erklärt
sich ein junger Schweizer im Vorbeifahren, ehe er flugs wieder im Lift
verschwindet. Und in der Tat werden auch die Zuschauer nicht müde,
die immer wieder vom Partyareal nebenan herüberkommen. Es ist weit
nach Mitternacht, als Krokus, die weltweit bekannte und platinveredelte
Hardrock-Band aus Solothurn, die mittlerweile überwiegend jungen
Gäste mit lauten Klängen Minusgrade und Müdigkeit vergessen
lässt. Für die passende Optik sorgt nicht nur die Lightshow
auf der Bühne. Auch auf der Rennstrecke sprühen bisweilen die
Funken, wenn sich Stahlkanten an Steinchen reiben, die von unzähligen
Schwüngen an denselben Stellen freigelegt werden. Gespenstisch auch,
wenn die Paralympics über der letzten Kuppe vor dem Zielhang erscheinen,
da ihre flachen Schlitten sicherheitshalber von Begleitern mit blinkenden
Leuchtstäben flankiert werden.
So geht es die ganze Nacht. Stunde um Stunde. Unentwegt rattert die Kilometeranzeige,
unermüdlich reichen Helfer den Fahrerinnen und Fahrern heißen
Tee und warme Decken, massieren verspannte Muskeln und versehen abgefahrene
Ski mit einer frischen Wachsschicht. Und irgendwann hat die Dunkelheit
ein Ende. Mit den ersten Sonnenstrahlen hoch über einer dicken Nebelsuppe
kommt neue Energie. Auf der Anzeigentafel leuchtet mittlerweile eine stattliche
Kilometerzahl auf, indes die Bahn die ersten Tagesgäste aus dem Genferseegebiet
herauf bringt. Der 6000-Einwohner-Ort genießt nicht nur bei Eltern,
die ihren Sprösslingen eine besonders gute Ausbildung bieten wollen,
großes Ansehen. Auch Wintersportler zieht es herauf auf den Sonnenbalkon
mit grandiosem Blick auf Montblanc, Dents du Midi, Rhonetal und den markanten
Gletscher des über romantische Pisten angeknüpften Nachbarortes
Les Diablerets. Vor allem sind es Leute aus der Gegend von Genf bis Montreux,
von denen viele fürs Wochenende ein Chalet direkt an der Piste haben,
aber auch internationale Gäste schätzen die heimelige aber doch
weltoffene Atmosphäre. Insbesondere Eltern mit Kindern, denn nicht
von ungefähr wurde Villars mit dem Schweizer Gütesiegel „Familien
Willkommen“ ausgezeichnet.
Auf dem Hochplateu von Bretaye, das während der 24 Stunden von Villars
zum betriebsamen Zeltdorf mit Serviceständen und Würstchenbuden
wurde, ziehen normalerweise die Kleinsten ihre ersten Bögen. Auf
flachen Hügeln zwischen Almhütten und Heustadeln schwingen Anfänger
hinab, während sich Fortgeschrittene an den weiten Flanken von Grand
Chamossaire und Chaux Ronde tummeln; dort, wo auch die Tore für die
Wettkämpfer des Formula Charity gesteckt sind oder sie genießen
bei einem Abstecher zum 2020 Meter hohen Croix de Chaux breite Carvingpisten
mit atemberaubender Aussicht. Im Snowpark springen die Snowboarder wie
Gummibälle über Schanzen und Quarterpipes, während sich
Ambitionierte in den Steilhängen von Les Fracherets und Sodoleuvre
richtig auspowern. Und spätestens zu Mittag schwingen alle wieder
in Bretaye ein.
Dort rückt die „Erdumrundung“ in greifbare Nähe.
Langsam erwacht das Rekordfieber und die zahlreichen Passanten verweilen
immer länger am Streckenrand – ungeachtet der traumhaften Bedingungen
auf den Pisten von Villars und Les Diablerets. Doch zum selber fahren
bleibt hernach noch genug Zeit. Jetzt fiebert man mit den Fahrerinnen
und Fahrern und feuert sie an auf ihren letzten Runden. Bald ist es geschafft.
Bald hat die Schinderei ein Ende. Jetzt, kurz vor zwölf am Sonntagmittag
ist volle Konzentration gefragt. Waren sie vorher froh um die Erholungszeit
im Lift, kann es den Athleten jetzt gar nicht schnell genug gehen. Schließlich
will jeder noch möglichst oft die Lichtschranke unter der Eisenbahnbrücke
passieren, an der die Kilometer gezählt werden. Pause macht jetzt
keiner mehr. Einmal noch, dann rückt der Uhrzeiger unerbittlich auf
zwölf. Erschöpft aber glücklich passieren die Teams unter
tosendem Beifall das Ziel. Dabei ist kaum ein Durchkommen zwischen den
applaudierenden Zuschauern. Doch das Bad in der Menge entschädigt
für jeden nächtlichen Durchhänger, die Phasen der Müdigkeit
und jeden Muskelkrampf. Hinter strahlenden Gesichtern ist die Anstrengung
verschwunden. Längst herrscht rundum Euphorie bei den Teilnehmern.
Unter ihnen Katja Seitzinger, Erika Hess, Snowboard-As Berti Denervaud
und die Schweizer Abfahrtsstars Steve Locher und William Besse, die mit
ihrem Quintett Sport House Platz drei erringen. 3,6 Kilometer hinter den
Siegern vom Team Tag Heuer, das in 24 Stunden 357,17 Kilometer gefahren
ist und aus den Händen eines etwas wehmütigen Jacques Villeneuve
den Siegerpreis entgegen nimmt. Wie gern hätte er selbst ein paar
Kilometer mehr beigesteuert. Doch als er die Summe des Gesamterlöses
hört, die sich aus den Prämien für die gefahrenen Kilometer,
Spenden und dem Erlös von Verpflegungsständen in der Zielarena
ergibt, strahlt auch er: 320.000 Schweizer Franken helfen der Organisation
Hope and Homes for Children und der Schweizer Cystic-Fibrosis-Stiftung.
2005 gehen die konditionsstarken Fahrer am 15./16. Januar ans Kilometersammeln
für krebs- und leukämiekranke Kinder (CLIC) sowie für die
Kinderkrebsforschung Force. Formel-Eins-Rückkehrer Jacques Villeneuve
wird sich hüten, sich wieder eine Erkältung einzufangen und
noch einmal zum Zuschauen verdammt zu sein, das Partyvolk vom Genfersee
wird die eiskalte Winternacht in den Bergen zum gesellschaftlichen Must
erheben und all jene, die trotz des Zuschauens noch selbst zum Fahren
gekommen sind, werden wiederkommen in das idyllische Wintersportgebiet
über dem nebligen Genfersee.
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